Ich lebe in einer kleinen Gemeinde, da, wo sich Hase und
Fuchs gute Nacht sagen. Aber immerhin, es gibt eine Grundschule und einen
Kindergarten. Beides auf einem Haufen. Und wo Kinder über die Straße gehen,
gibt es natürlich auch eine Ampel. Soweit, so in Ordnung.
Jahrelang fristete diese Ampel ein einsames Dasein, bis
der Gemeinderat beschloss, eine zweite Ampel aufzustellen. Sozusagen eine
Eva-Ampel. Schließlich sind wir eine aufstrebende Gemeinde, und jeder
Aufschwung beginnt mit einer neuen Ampel.
Doch wohin damit?
Man entschied sich für den Ortskern, dort wo das Leben
tobt. Zumindest zweimal am Tag, in einem verdächtigen Zusammenhang mit dem
Berufsverkehr. Zugegeben, in diesen beiden Stunden herrscht wirklich dichter
Verkehr und es ist tatsächlich manchmal schwierig, über die Straße zu kommen. Aber
in der restlichen Zeit?
Ein Traktor hier, eine Pferdekutsche da. Ampel
überflüssig. Das hatte sogar der Gemeinderat erkannt und die neue Ampel mit
grenzenloser Weitsicht als reine Bedarfsampel ausgelegt.
Bedarfsampel heißt:
Ampel komplett aus, bis Fußgänger oder Radfahrer auf
Ampelaktivierungsknopf drückt. Dann Ampel an. Grün für Fußgänger oder
Radfahrer, rot für Auto, oder Traktor, oder Pferdekutsche.
Eine gute Lösung, intelligent und verkehrsgerecht.
Aber der Gemeinderat hatte die Rechnung ohne die weit
verbreitete Ampelneurose der gemeinen Gemeindemitglieder gemacht.
Man stelle sich vor, ein Fußgänger oder Radfahrer nähert
sich der Ampel:
"Oh, schau, eine Ampel, eine Ampel!"
Innere Stimme:
"Darf man bei Nichtgrün über die Ampel gehen?"
Antwort:
"Nein, nein, darf man nicht!"
Innere Stimme:
"Auch dann nicht, wenn die Ampel abgeschaltet
ist?"
Antwort:
"Keine Ahnung!"
Hin und her gerissen steht der Fußgänger oder Radfahrer
vor der toten Ampel, von tiefen Erziehungsängsten gequält, bis eine Hand
unkontrolliert hervorzuckt und zack, schon ist der Knopf gedrückt.
Was passiert?
Die Ampel springt an, zeigt ihre Farben und das kleine
Männchen wird grün. Sonst ändert sich nichts. Kein Auto, das anhält, nicht mal
ein klitzekleiner Traktor. Von einer Pferdekutsche ganz zu schweigen.
Ist das nicht frustrierend?
Innere Stimme:
"Warum stiehlt mir diese Ampel meine Zeit?"
Antwort:
"Der Gemeinderat hat Schuld!"
Die Beschwerden häuften sich, eine sinnvolle Lösung musste
her. Nach tagelangen Beratungen ein genialer Einfall:
"Wir brauchen einen Ampelmann!"
Und dann kam ich ins Spiel. Schon lange genervt von meinem
unterbezahlten Pilotenjob kam mir das Angebot gerade recht. Flugs unterschrieb
ich einen Zehnjahresvertrag mit großzügiger Pensionsregelung, ließ den Einbau
einiger technischer Kleinigkeiten in meinem Haus zu und konnte schon ein paar
Tage später meine verantwortungsvolle Tätigkeit als Ampelmann aufnehmen. Immer,
wenn jetzt so ein ampelneurotischer Mensch auf den Knopf drückte, wurde bei mir
Alarm ausgelöst.
Naja, nicht immer. Während der oben
genannten zwei Stunden natürlich nicht. Dann durfte ich ausruhen. Mein
Feierabend. Außerdem gab es ein paar Sonderfälle, bei denen ich auch nicht
einschreiten durfte. Kinder zum Beispiel. Aber ansonsten begann jetzt mein
Auftritt.
Ich stülpte mir eine Perücke über, zog meine Sonnenbrille
auf und schwang mich in eins meiner mir von der Gemeinde zur Verfügung
gestellten zehn Autos. Manchmal auch auf einen Traktor oder eine Pferdekutsche.
Dann raste ich Richtung Ampel. Geschwindigkeit spielte keine Rolle, ich hatte
so meine Privilegien. Der Schaltmechanismus der Ampel war von mir per
Fernbedienung steuerbar. Kurz vor der Ampel löste ich die Rotphase aus und kam
im letzten Moment mit quietschenden Reifen zum Stehen. Manchmal auch mit
qualmenden Hufen.
Der Ampelneurotiker schaute mich strafend und
triumphierend zugleich an.
"Schon wieder so einen Rowdy zur Raison
gebracht", las ich in seinem Blick, "gar nicht auszudenken, was hätte
passieren können, so ganz ohne Ampel!"
Kopfschüttelnd und befriedigt überquerte er die Straße. Das
waren für mich Augenblicke höchsten Glücks. Das war wahrer Dienst am Kunden!
Es gab keine Beschwerden mehr, die Ampel wurde akzeptiert,
ich wage fast zu behaupten, sie wird mittlerweile sogar geliebt. Alles mein Verdienst.
Doch irgendwann wird selbst der verantwortungsvollste und
schönste Job zur Routine. Langweilig.
Ich war nahe dran, die Kündigung einzureichen (meine
Pensionsansprüche waren natürlich gesichert), da kam die Rettung.
In einer nahegelegenen
Kleinstadt war gerade eine Umgehungsstraße fertig gestellt worden. Natürlich
mit entsprechender Ampelanlage. Sehr sinnvoll, in den bereits mehrfach
erwähnten zwei Stunden.
Aber sonst...?
Der einsame Autofahrer stand um Mitternacht an einer total
verwaisten Kreuzung vor einer im prächtigsten Rot erstrahlenden Ampel und
fragte sich nach dem Sinn des Lebens. Die Beschwerden häuften sich. Die nahe liegende
Lösung, die Ampelanlage in verkehrsarmen Zeiten einfach abzuschalten, kam
überhaupt nicht in Frage. Dafür hatte man ja schließlich nicht soviel Geld
investiert.
Und außerdem, wo bliebe dann die Sicherheit? Wenn jeder so
einfach, so unkontrolliert, über die Kreuzung fahren dürfte.
Nach wochenlangen Diskussionen dann die Rettung:
Irgendjemand hatte vom Ampelmann in der kleinen
Nachbargemeinde gehört.
Diese neue Herausforderung kam für mich gerade zum
richtigen Zeitpunkt. Jetzt konnte ich mein ganzes Talent ausspielen. Wenn der
Ampelalarm ertönte, brauste ich hin und zischte in atemberaubendem Tempo an dem
verschreckten Autofahrer vorbei. Außer Sichtweite, wechselte ich den Wagen und
mein Aussehen und das gleiche Spiel begann aus der anderen Richtung. Je nach
Schwere des Falles und Lust und Laune konnte ich diese Übung beliebig oft
wiederholen. Irgendwann erlöste ich das arme Opfer, schaltete die Ampel auf
grün und wartete hingebungsvoll, bis es verschwunden
war. Ich wusste, es würde der Ampel danken, im sicheren Bewusstsein, ohne sie
nie eine Lücke im dichten Verkehrsgetümmel gefunden zu haben.
Nun war mein Erfolg nicht mehr aufzuhalten.
Andere Gemeinden kamen hinzu, die Nachfrage stieg
unaufhörlich. Ich kündigte nun tatsächlich (die Pensionsansprüche waren
gesichert) und gründete die AmpSinn GmbH.
Mittlerweile beschäftigt meine Firma über 50 Angestellte
und wächst täglich. Ich fahre natürlich schon lange nicht mehr selbst, habe
meinen Aktionsradius bereits weit über das Kreisgebiet ausgedehnt und überzeuge
auf langen Vortragsreisen auch die kleinsten Gemeinden, wie sehr doch das träge
Ortsbild durch eine schöne neue Ampel sinnvoll aufgepeppt werden kann.
© 2001
Volker Beilmann