Die vollbusige Lulu: „Zeig‘ es mir, Wolf, gib alles!“
Der einsame Wolf: „Ja, Lulu.“
„Sitz gerade beim Frühstück!“
„Ja, Mama.“
„Schlürf nicht so, trink Deinen Kakao ordentlich.“
„Ja, Mama.“
„Beeil Dich, Du kommst zu spät ins Büro!“
„Ja, Mama.“
Sie steht nackt vor dem Spiegel. Betrachtet angewidert ihr
ungeschminktes Gesicht. Alt sieht sie aus, zu alt für ihre 35 Jahre. Wieder so ein
endloser Tag in Sicht.
Welchen BH soll sie anziehen?
Die vollbusige Lulu: „Schneller, Wolf, schneller. Lass uns
zusammen verglühen!“
Der einsame Wolf: „Ja, Lulu, ja, ich brenne.“
„Hast Du Dein Mittagessen eingepackt?“
„Ja, Mama.“
„Was hast Du denn mit Deiner rechten Hand gemacht? Du hast
doch nicht wieder heimlich geraucht?“
„Nein, Mama.“
Wozu einen BH tragen? Es gibt nichts zu halten, also zieht
sie sich langsam an, nimmt eine Zigarette aus der Packung und schlürft ihren
schwarzen Kaffee. Ihr Gesicht schwebt gespenstisch über der Lacktischdecke des
Küchentischs.
Die vollbusige Lulu: „Oh Wolf, oh Wolf, beiß mich, kratz
mich, ich explodiere.“
Der einsame Wolf: „Lulu, Lulu, ich bin ja so wild.“
„Du mit Deiner ewigen Trödelei. Lauf jetzt, der Bus wartet
nicht.“
„Ja, Mama.“
„Und benimm Dich, dass mir keine Klagen kommen.“
„Ja, Mama.“
Schminken?
Wozu schminken?
Hat noch nie jemanden interessiert und wird auch heute
niemanden interessieren.
Lustlos drückt sie ihre Zigarette aus, streift den alten
Mantel über und macht sich auf den Weg.
Die vollbusige Lulu: „Ja, ja, ja, Wolf, ja, Du bist
wunderbar.“
Der einsame Wolf: „Lulu, ich ... Lulu, ich .. mir wird so, ich könnte Dich fressen.“
„Moment, Deine Krawatte sitzt schief. So, ab jetzt.“
„Bis heute abend, Mama.“
Er rennt, aber der Bus ist weg.
Ihn schaudert, das ist ihm noch nie passiert.
Im nächsten sind keine vertrauten Gesichter, nur Fremde.
Sie kommt zur Haltestelle, gerade rechtzeitig, und steigt
in den Bus. Alles besetzt. Nein da, noch ein Platz, neben dem kahlköpfigen
Mittvierziger mit Blümchenkrawatte.
Widerstrebend setzt sie sich, sorgfältig darauf bedacht,
dem Ding neben sich nicht zu nahe zu kommen.
Angstvoll kauert er sich zusammen. Sein Herz klopft bis
zum Hals.
All die vielen Furcht einflößenden Fremden hier, und
ausgerechnet die Schrecklichste muss sich neben ihn setzen.
Die vollbusige Lulu: „ War das wunderbar. Du bist der Größte,
Wolf!
Der einsame Wolf: „ Du bist die Beste, Lulu, bei Dir fühle
ich mich geborgen.“
© 2003 Volker Beilmann